Zur Sozialität des nicht-fotorealistischen Renderings.
Eine zu kurze, soziologische Skizze für zeitgenössische Bildmaschinen
Autor: Andreas Schelske
[erschienen in: IMAGE 6 (Ausgabe Juli 2007 / http://www.bildwissenschaft.org/VIB/journal
Schlagwörter: Fotorealismus, Fotografie, Bildmaschine, Bildsprache,
Kunst
Disziplinen: Computervisualistik, Soziologie, Semiotik
Wie müsste eine Bildmaschine für automatische Malereien konstruiert
sein, damit sie in westlichen Gesellschaften so erfolgreich wird wie
die digitale Fotokamera oder wie eine Game Engine für dreidimensionale,
fotorealistische Computerspiele? Die soziologische Frage ist: Welcher
Bauart müsste eine nicht-fotorealistische Bildmaschine sein, um in der
bildvermittelten Kommunikation unserer Kultur spezifische Funktionen
und Aufgaben zu erfüllen?
How can we construct a machine for automatic
imagery in the same way that it is successful like a digital camera
or a game engine for 3D photorealistic computer games in the western
society? The sociological question is: Which kind of construction should
a non-photorealistic machine for automatic imagery have, so that it
will succeed in visual communication with picture in our culture?
1. Einführung
Die visuelle Kommunikation mittels fotorealistischer Bilder fasziniert
europäische Gesellschaften seit Jahrhunderten. Schon der Historiograph
Plinius der Ältere beschrieb, wie Individuen mittels Bildern etwas so
visuell erfahrbar mitteilen wollten, als ob es während der Betrachtung
real sei oder einmal real gewesen sei. Nach der unglaublichen Geschichte
von Plinius malte Parrhasios ca. 400 v. Chr. ein paar Trauben derart
realistisch, dass nicht nur den Vögeln, sondern auch dem Malerkollegen
Zeuxis die gemalten Trauben zunächst so vorkamen, als ob sie real seien
(Plinius 2005). Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts orientiert
sich der Informatikbereich der Computergrafik an dem Ziel, fotorealistisch
wirkende Bilder mittels Computern zu erstellen. Mit Fotorealismus wird
in der Computergrafik eine bildhafte Darstellungsweise beschrieben,
die die globalisierte Bildkultur als bildhafte Realitätsbehauptung von
etwas verwendet. Beispielsweise erstellen Individuen auch im Alltag
mit einem Fotoapparat ein fotorealistisches Lichtbild von etwas, das
für sie existiert hat bzw. noch existiert. An den perfekter werdenden
Fotorealismus in Computerspielen haben sich ebenfalls viele gewöhnt.
Analoge und digitale Bildmaschinen werden heutzutage problemlos dafür
verwendet, eine fotorealistische Bildkommunikation zwischen Menschen
zu verwirklichen. Bei fotorealistischer Bildkommunikation verstehen
kulturvertraute Betrachter sofort, wie die visuell erfahrbaren Oberflächen
eines Gegenstands bezeichnet sind und warum dafür eine perspektivische
Bildsegmentierung genutzt wird.
Sollen Bilder nicht fotorealistisch wirken, sich also nicht an dem Naturgesetz
der Lichtausbreitung orientieren, dann erreichen halbautomatische oder
automatische Bildmaschinen in vielen sozialen Kontexten noch nicht die
gleiche Wertschätzung wie die von Menschen gezeichneten oder gemalten,
nicht-fotorealistischen Bilder. Die bisher sehr menschliche Fähigkeit
der zeichnerischen Abstraktion oder kreativen Überzeichnung können Maschinen
bisher nicht auf eine Weise produzieren, dass z.B. jeder Laie mit der
Maschine ein Kunstwerk erstellen kann oder die Maschine sogar autonom
ein solches erstellen könnte. Aufgrund dieses Mangels an technischen
Fertigkeiten arbeitet die Computergrafik an einer Bildmaschine, die
nicht-fotorealistische Bilder mittels eines Renderings erstellen kann.
Mit dem „nicht-fotorealistischem Rendering“ bezeichnet die Disziplin
der Computergrafik eine Technik, mit der Bilder errechnet werden, in
denen Betrachter keine Realitätsdarstellung im fotografischen Darstellungsstil
erkennen. Vielmehr weisen nicht-fotorealistische Bilder einen Darstellungsstil
auf, der allgemein als Malerei, Strichzeichnung, Aquarell. Tuschzeichnung,
Ölgemälde etc. eingeordnet wird (vgl. Strothotte 2002, S. 7). „Rendering“
heißt im Zusammenhang der Computervisualistik, dass digitale Bilder
mittels einer mathematisch errechneten Bildbeschreibung aus einem digitalen
dreidimensional-räumlichen mit optischen Eigenschaften angereicherten
Modell produziert werden. Bei nicht-fotorealistischem Rendering handelt
es sich demnach um digitale Bilder, die ähnlich einer Malerei, Strichzeichnung,
Tuschzeichnung etc. wirken, die ein Computer halbautomatisch oder automatisch
errechnet und die er gemäß seiner Algorithmen grafisch darstellt. Die
Technik des nicht-fotorealistischen Renderings befindet sich zwar noch
in der Entwicklung, doch um die technischen Belange im engeren Sinn
soll es hier nicht gehen. Vielmehr sollen eine paar Überlegungen aufgezeigt
werden, auf was eine soziologisch orientierte Bildwissenschaft achten
würde, wenn sie eine Maschine für ein nicht-fotorealistisches Rendering
entwirft.
Abb. 1: Beispiel für
ein nicht fotorealistisches Rendering - cool-to-warm shading (Gooch
et al. 1998).
Bisher ist zu beobachten,
dass halbautomatische und automatische Bildmaschinen für nicht-fotorealistische
Bilder nicht solche gesellschaftlichen Öffentlichkeiten erreichen, wie
sie für nicht-fotorealistische Bilder aus der Hand eines Malers üblich
sind. Zudem scheint es Bildmaschinen derzeit noch zu überfordern, mittels
ihrer Algorithmen beispielsweise ein nicht-fotorealistisches Ölgemälde
so zu erstellen, dass es eine besondere Wertschätzung in der Öffentlichkeit
erfährt. Wie müsste demnach eine Bildmaschine konstruiert sein, damit
sie in westlichen Gesellschaften so erfolgreich werden könnte wie die
digitale Fotokamera oder wie eine Game Engine für dreidimensionale,
fotorealistische Computerspiele? Die soziologische Frage ist: Welcher
Bauart müsste eine nicht-fotorealistische Bildmaschine sein, um in der
bildvermittelten Kommunikation spezifische Funktionen und Aufgaben zu
erfüllen?
Den Anlass zu der oben genannten
Frage bietet ein Artikel, den Tobias Isenberg bei http://www.bildwissenschaft.org/VIB/journal/content.php?function=fnArticle&showArticle=103
unter folgendem Titel veröffentlicht hat: „A Survey of Image-Morphologic
Primitives in Non-Photorealistic Rendering“ (vgl.: Isenberg). Ebenfalls
veröffentlichte dort Dubuf und Rodrigues einen Artikel zur Computer
Visualistik, mit dem die Autoren verdeutlichen, dass sie zwar nicht
in den Kopf von Van Gogh schauen können, dass sie aber davon ausgesehen,
dass es für seine Bilder sehr wichtig war, was Van Gogh in der Natur
sah bzw. im „visuellem System“ seines Kopfes verarbeitet hat (vgl. Dubuf
& Rodrigues). Selbstverständlich wäre es nicht zutreffend zu behaupten,
es wäre vollständig unwichtig, was Van Gogh in der Natur sah, trotzdem
liegt es nahe, zu behaupten, dass es für Von Gogh wesentlich wichtiger
wahr sich Bilder seiner Kultur anzusehen, da er ansonsten keine nicht-fotorealistischen
Bilder hätte malen können. Vergleichbar dem sozialem Phänomen, dass
ein Individuum eine Sprache nicht autonom für sich allein erfinden kann
(Wittgenstein-Argument), gibt es kein mir bekanntes Beispiel dafür,
dass ein Individuum im Stande war, autonom von irgendeiner Gesellschaft
eine nicht-fotorealistische Bildkultur zu entwickeln. Vielmehr ist davon
auszugehen, dass Individuen eine nicht-fotorealistische Bildkultur im
visuell kommunikativen Austausch mit anderen Individuen erlernen. Aus
diesem Grund ist eine Maschine für nicht-fotorealistische Bilder kaum
darauf angewiesen, ob sie Umweltdaten optisch, thermisch, akustisch,
elektrisch, magnetisch, radioaktiv oder mechanisch misst, sondern notwendig
ist es für sie, dass sie Handlungsanweisungen (Algorithmen) dafür hat,
wie sie etwas so darstellen kann, dass Individuen es als ein nicht-fotorealistisches
Bild ihrer Kultur anerkennen können. Für nicht-fotorealistische Bildmaschinen
ist nicht der Messvorgang von Umweltdaten besonders relevant, sondern
bedeutungsvoll ist die Art und Weise, wie eine Bildmaschine die Bildstile
und die Kultur bildhaft umsetzt, in der sie ihre visuell kommunikative
Arbeit verrichten soll.
Abb. 2: Mit einem Grafikprogramm
erstelltes Ölbild vom Foto
Quelle: http://www.myjanee.com/tuts/painted3/painted3.htm
- 28.03.2007
2. Kulturelle Darstellungsstile
beachten
Ein wesentlicher Grund der
Überforderung der Bildmaschinen besteht darin, dass nicht-fotorealistische
Bilder im syntaktischen Darstellungsstil wenig von Gesetzmäßigkeiten
geleitet sind und den Betrachtern durch kulturorientierte, aber unvorhergesehene
Kreativität eines Individuums überzeugen (vgl. Schelske 1998). Allerdings
ist in der europäischen Kunstgeschichte nicht zu erkennen, dass irgendein
Maler einen in allen Zeichensegmentierungen vollständig autonomen Bildstil
hätte. Jeder Maler folgt notgedrungen manchen syntaktischen Regeln seiner
Kultur, wenn er selbst und sein Publikum die Verteilung von Farbe auf
einem Untergrund als Bild anerkennen sollen.
Aufgrund kulturell stabilisierter
Bildstile funktionieren Bildmaschinen dann besser, wenn sie Bilder nach
Vorbildern erstellen oder – wie im Fall der Fotografie – die Zentralperspektive
als berechenbares Naturgesetz ihres Darstellungsstils nehmen. Gegenüber
nicht-fotorealistischen Bildern war es vergleichsweise einfach, fotorealistische
Bilder mittels eines Computers errechnen zu lassen. Denn die Darstellung
der Lichtausbreitung auf Bildern lässt sich mittels des physikalischen
Naturgesetzes der Zentralperspektive verhältnismäßig einfach berechnen.
Nicht-fotorealistische Bilder weisen indessen im Aufbau der bildhaften
Zeichen keine Naturgesetze auf, sondern sind an kulturellen Darstellungsregeln
orientiert, die wesentlich schwieriger in berechenbare Algorithmen zu
überführen sind. Diese kulturellen Darstellungsregeln sind kaum daran
orientiert, Umweltdaten eines sichtbaren Gegenstandes irgendwie ähnlich
zu sein, sondern sie sind daran orientiert, Individuen in visueller
Kommunikation mit dem Bild zu gefallen und bedeutsam zu werden. Nicht-fotorealistische
Bilder müssen also nicht mittels einer Ähnlichkeit irgend etwas anderes
bezeichnen, um als Bild zu gelten, sondern für ihre Wertschätzung reicht
es aus, dass sie eine Selbstähnlichkeit zu anderen Bildern ihrer Kultur
aufweisen, um als bildhafte Kommunikation zwischen Menschen anerkannt
zu werden. Eine nicht-fotorealistische Bildmaschine müsste demnach so
konzipiert sein, dass sie sowohl die 1000 wichtigsten Bildstile der
westlichen Bildkultur verwendet als auch individuelle Variationen hinsichtlich
eines konkreten Gegenstandes erlaubt. Die Bildmaschine müsste beispielsweise
ein Algorithmus dafür haben, den Darstellungsstil von Ulf Puder (Leipziger
Schule) nachzuahmen und gleichzeitig partikuläre Situationen als Unikat
darstellen können (vgl. Bilder von Ulf Puder http://www.artcoregallery.com/artists/ulf_puder/index.html).
Vor einer noch größeren Herausforderung stehen Konstrukteure, wenn die
Bildmaschine für nicht-fotorealistische Bilder selbst Bildstile erfinden
soll, die von Kunstkennern als Kunst oder gar als revolutionäre Kunst
anerkannt werden sollen.
Kulturelle Darstellungsstile
auf der syntaktischen Ebene eines Bildes müssen für eine funktionstüchtige
Bildmaschine beachtet werden, weil es für Bilder kein Lexikon geben
kann, das einen bezifferbaren Wortschatz umfasst. Ebenfalls existiert
kein Bildalphabet, das visuell erfahrbare Buchstaben hat, die als Aufschreibrepertoire
für gesellschaftliche praktizierte Bildkommunikation verfügbar sind.
Bilder fungieren in visuell kommunizierenden Gesellschaften nicht wie
eine gesprochene, symbolorientierte Sprache. Zwar existieren symbolische
Zeichen in Bildern, die meist ausschließlich mittels einer gesprochenen
Sprache zu beschreiben und zu verstehen sind, aber gleichzeitig und
vorrangig vermitteln Bilder visuell erfahrbare Daten. Diese visuell
erfahrbaren Daten werden häufig von Bildbetrachtern dahingehend interpretiert,
dass sie alle der Meinung sind, sie sehen die gleiche bildhafte Bezeichnung
in dem Bild, aber gleichzeitig viele unterschiedliche Bedeutungen interpretieren
und sprachlich artikulieren. Die meisten Bilder bezeichnen etwas monosemantisch,
d.h. Betrachter erkennen immer nur eine visuell-kommunikative Bezeichnung
im Bild – sie erkennen beispielsweise ein Haus im Bild. Und zweitens
bezeichnen Bilder zwar monosemantisch, aber in der Bedeutung werden
sie polypragmatisch interpretiert, d.h. Betrachter aktualisieren unzählige
Bedeutungen, wenn sie die visuell-kommunikative Bezeichnung erkennen.
Abb. 3 Hasen-Ente
Eines der bekanntesten Beispiele
für eine bistabile Bezeichnungszuweisung ist das nebenstehende Kippbild,
bei dem zu entscheiden ist, ob eine Skizze einen Enten- oder einen Hasenkopf
bezeichnet. Unrichtigerweise ziehen viele Autoren die biaspektische
Bezeichnungszuweisung des Enten-Hasenkopfes als Beispiel für bistabile
Bedeutungszuweisung heran (vgl. Schelske 1996, S. 90). Die Bedeutung,
die die Wahrnehmung der Enten- oder Hasenkopf-Bezeichnung auf zwei Aspekte
lenkt, ist aber keineswegs bistabil, sondern sie ist interpretativ offen
oder polypragmatisch. Die bildhafte Bezeichnung des nebenstehenden Enten-Hasenkopfes
kann in der Bedeutung von Hase, Ente, Hasenkopf, Entenkopf, gezeichneter
Entenkopf oder ”ich sehe das jetzt als Bildhasen” (Wittgenstein 1990,
S. 369) usw. interpretiert werden. Die Unterscheidung von Bedeutung
und Bezeichnung, bzw. von Semantik als Bezeichnungsfunktion und Pragmatik
als Bedeutungsfunktion eines Bildzeichens können bisherige Bildmaschinen
bisher nicht adäquat unterscheiden.
Infolge der beschriebenen
Maßgaben, sollte eine Bildmaschine für nicht-fotorealistische Bilder
in der Lage sein, visuell-kommunikative Bezeichnungen so zu erstellen,
dass Betrachter erkennen, was mit der optisch erfahrbaren Bildoberfläche
bezeichnet ist. Bezeichnet die Bildmaschine ein Haus, müssen Betrachter
auch ein Haus erkennen können. Es wäre eine enorme Evolution der Bildmaschinen,
wenn wir sie quasi wie ein Fotoapparat auf ein Gebäude richten, einen
Knopf drücken, und anschließend in dem Bild eine bildhafte Hausbezeichnung
im Darstellungsstil von Van Gogh erkennen können. Soll die Bildmaschine
neben dem Erstellen von visuell-kommunikativen Bezeichnungen auch die
kulturell möglichen Interpretationen durch Betrachter soweit wie nötig
antizipieren, dann muss sie derart konstruiert sein, dass sie die gesprochene
Sprache einer vergesellschaften Kultur auf Bilder annähernd so anwenden
kann, wie es die jeweiligen Gesellschaftsmitglieder selbst machen würden.
Es wird an nicht-fotorealistische Bildmaschinen also eine hohe Anforderung
gestellt, wenn mit ihnen nicht nur bildhafte Bezeichnungen erstellt
werden, sondern sie ebenfalls Bedeutungen bzw. spezifische Information
weitgehend automatisch mittels Bildern kommuniziert sollen. Je enger
die potentielle Vieldeutigkeit gegenüber dem nicht-fotorealistischem
Bild erwartbar interpretiert werden sollen, desto stärker müssen die
semantischen und pragmatischen Zeichenbezüge der jeweiligen Kultur in
der Bildmaschine vernetzt sein. Die Bildmaschine hätte eventuell ein
Semantic Web oder zumindest eine umfangreiche Ontologie im Hintergrund,
um den Bedeutungsrahmen eines erstellten Bildes nicht ins Unendliche
auslaufen zu lassen.
3. Turing-Test für Bildmaschinen
Strothotte schlägt vor,
eine gute Maschine für nicht-fotorealistische Bilder solle einen bildspezifischen
Turing-Test bestehen. Nach Strothotte beinhaltet der bildspezifische
Turing-Test die Frage: Können Bilder von einem Computer so erstellt
werden, dass jemand fälschlicherweise meint, das Bild hätte ein Mensch
mit der Hand erstellt (vgl. Strothotte 2002, S. 8). Würde ein Mensch
auf der syntaktischen Ebene das maschinell erstellte Bild für handgemalt
halten, dann hätte die Bildmaschine den syntaktischen Turing-Test bestanden.
Doch auf der syntaktischen Ebene des Bildes könnte ein soziologischer
Turing-Test nicht stehen bleiben, weil überdies die semantischen und
pragmatischen Zeichenbezüge einen Menschen zum Fehlurteil über das Bild
verführen müssten. Der soziologische Turing-Test für eine nicht-fotorealistische
Bildmaschine würde in folgender Anweisung per Spracheingabe münden:
Male mir fünf Bilder von einem bestimmten Sujet, die der aktuellen Bildkultur
in der zeitgenössischen Malerei entsprechen. Kommen die maschinell erstellten
Bilder einem Kunstkenner als künstlerische Bildkultur vor, wäre der
Turing-Test für Bilder der Kunst bestanden. In dem soziologischen Turing-Test
müsste die Bildmaschine nicht nur eine malende Hand nachahmen können,
sondern sie müsste auch die Kultur, die sozialen Kontexte und das Lebensgefühl
der Individuen in einer Epoche nachahmen können, um einen Bildbetrachter
zum Fehlurteil zu verführen.
4. Soziale Kontexte
Soziale Kontexte haben für
die Ausgangsfrage nach der Bauart einer nicht-fotorealistischen Bildmaschine
eine große Relevanz. Denn weder wird eine Bildmaschine außerhalb sozialer
Kontexte entwickelt noch findet sie außerhalb von diesen eine Verwendung.
So sind beispielsweise 2D-Fotogramme der alten Röntgen-Bildmaschinen
im medizinischen Kontext immer noch erfolgreich, weil Ärzte nicht die
Oberfläche des Körpers, sondern dessen innerer Aufbau interessiert.
Ebenfalls sind die quasi-fotorealistischen 3D-Bilder der Computertomographie
hilfreich, weil sie im medizinischen Kontext etwas über das Innere eines
menschlichen Körpers aussagen. Obwohl Bilder der Computertomographie
tatsächlich gar nicht so fotorealistisch sind, wie sie scheinen, wäre
Medizinern auch mit einer Skizze im Darstellungsstil einer perspektivisch
exakten Zeichnung geholfen. Unverantwortlich wäre es, wenn sich Ärzte
an Hand eines nicht-fotorealistischen Aquarells ohne Zentralperspektive
während einer Hirnoperation orientieren müssten. Eine Bildmaschine im
medizinischen Kontext sollte keineswegs so beschaffen sein, dass sie
die gleichen Freiheiten der Darstellung nutzt wie sie beispielsweise
in der traditionellen Kunst verwendet werden. Zwar kann nicht-fotorealistisches
Rendering entsprechend seiner Algorithmen einen hohen Freiheitsgrad
aufweisen, aber eine Bildmaschine im medizinischen Kontext ist immer
dann hilfreich, wenn sie – so weit wie möglich - exakte Messwerte über
den inneren Zustand des Körpers eines Patienten darstellt. Die Verwendung
von Bildern innerhalb der Medizin zeigt, dass Bilder in wissenschaftlichen
Kontexten immer dann relevant werden, wenn Messwerte dargestellt werden.
Bildmaschinen, die nicht-fotorealistische Bilder mit Freiheitsgrade
erstellen, wie sie in der traditionellen Kunst präsentiert werden, sind
in der Medizin und vielen anderen wissenschaftlichen Kontexten meist
unerwünscht, weil sie keine Orientierung über Messwerte geben. Die Nähe
zu Messwerten begründet beispielsweise den großen Erfolg der fotorealistischen
Fotografie in der Wissenschaft und öffentlichen Kommunikation über Tatsachen.
Die Medienöffentlichkeit
interessiert sich weniger für Messwerte oder das Innere eines Körpers,
sondern sie interessiert sich meist für Körperoberflächen. Nicht-fotorealistische
Bildmaschinen lassen sich in soziale Kontexte der Forschung integrieren,
weil sie dort innere Zusammenhänge von etwas transparent machen. Geht
es um die Darstellung von Oberflächen findet das nicht-fotorealistische
Bild vor allem im Comic oder der Malerei große Resonanz in der Öffentlichkeit.
Die Medienöffentlichkeit interessiert sich für die bildhafte Darstellung
von Oberflächen eines Körpers aus vielerlei Gründen. Zum einen möchte
sie wissen, wie etwas tatsächlich aussieht. Nicht-fotorealistische Pornografie
ist beispielsweise seit der Erfindung der Fotografie verhältnismäßig
erfolglos. Zwar existiert für erotische Mangas beispielsweise in Nordamerika
ein Nischenmarkt, doch der Umsatz von ca. 155 Millionen Dollar für alle
Mangasparten insgesamt in Nordamerika ist verschwindend gering, wenn
er an den ca. 8 bis 10 Milliarden Dollar Umsatz für pornografisches
Bildmaterial allein in den USA gemessen wird (vgl. Schlosser 2003, ICv2).
Neben dem tatsächlichen Aussehen von etwas interessiert sich die Medienöffentlichkeit
für eine bildhaft dargestellte Sensation, zu der sie eine mehr oder
weniger eindeutige Emotion empfinden kann. Und weiterhin möchte sie
wissen, wie ein Bildner die Freiheitsgrade nutzt, die ihm die Malerei,
die Zeichnung und das Aquarell ermöglicht. Zusammengefasst lassen sich
zunächst drei Faktoren nennen, die in der Medienöffentlichkeit relevant
werden: Erstens das Aussehen von etwas, zweitens die Kraft des emotionalen
Involvements eines Bildmotivs und drittens das kreative Ausschöpfen
der Freiheitsgrade innerhalb eines kulturellen Bildstils.
5. Was eine nicht-fotorealistische
Bildmaschine können müsste
Soll eine nicht-fotorealistische
Bildmaschine konstruiert werden, die in dem soziokulturellen Kontexten
unserer Kultur von Erfolg gekrönte Bilder generiert, dann müsste sie
mehrere Fähigkeiten aufweisen. So müsste eine nicht-fotorealistische
Bildmaschine zu Freiheitsgraden befähigt sein, die es ihr erlauben,
ohne Vorbilder, aber mit ästhetischer Urteilskraft zu entscheiden, welche
Bildaufteilung und Motivwahl in dem jeweiligen Kulturkreis zur jeweiligen
Zeit zutreffend ist. Sie müsste entscheiden können, welche Bildsyntaktik
und welches Bildmotiv (Semantik) in den jeweiligen kulturellen Kontext
passt, ohne dass das Publikum unter- oder überfordert ist. Eine nicht-fotorealistische
Bildmaschine partizipiert noch nicht an den Freiheitsgraden der Kunst,
wenn sie irgendein Motiv und irgendeinen Darstellungsstil automatisch
wählt oder halbautomatisch wählbar macht. Die Wahl der Malwerkzeuge
und des Mediums beschreibt Isenberg begründet als Freiheiten, unter
denen ein Verwender einer nicht-fotorealistischen Bildmaschine wählen
kann. Aber in europäischen Kulturen entsteht nicht Kunst, wenn ein Individuum
auf einer computerunterstützten „Malpallete“ zwischen allen Farben,
Formen, Strukturen und Strichstärken wählen kann, wie sie in der Kunst
schon einmal vorgekommen sind. Die Freiheiten einer computerunterstützten
„Malpallete“ bieten viele Möglichkeiten an, ein Bild zu erstellen. Doch
eine autonome Bildmaschine, die versucht Kunst zu erstellen, muss mehr
können. Eine „automatische“ Bildmaschine für Kunst muss entweder wissen,
welche Freiheiten so zu reduzieren sind, dass schließlich nach allen
Reduktionsprozessen eigentlich nur ein Bild möglich ist, oder sie muss
gleich wissen, was das richtige Bild ist. In der Kunst und auch in der
Medienöffentlichkeit werden oft die Bilder als gelungen angesehen, die
keine Freiheiten vorstellbar werden lassen, weil die Betrachter meinen,
das Bild hätte nicht anders sein dürfen, als so wie es sich präsentiert.
Soll eine Maschine für nicht-fotorealistische Bilder mehr können, als
eine computerunterstützte Malpalette bereitzustellen, dann muss sie
„ahnen“, welche Unfreiheiten es sind, die die Bildbetrachter überzeugen.
Sie müsste über die Unfreiheit der Kultur informiert sein, um unter
den Freiheitsgraden wählen zu können, wie sie in der traditionellen
Kunst vorhanden sind. Nichtsdestoweniger kann ein Individuum eine halbautomatische
Maschine für nicht-fotorealistische Bilder nutzen, um Bilder zu erstellen
und darauf hoffen, in den sozialen Kontexten des Kunstsystems anerkannt
zu werden. Kunst mit Computern wird ohne Frage als Kunst akzeptiert,
solange Menschen noch als Urheber des Kunstwerks gelten und beispielsweise
eine Software für die Bildgenerierung geschrieben haben (vgl. Netzkunstgenerator
von Cornelia Sollfrank: http://nag.iap.de/).
Abb. 4 Andreas Schelske
© ;-) erstellt mit Net.Art Generator, http://nag.iap.de/
6. Für welche Bilder
interessieren sich Individuen
Der Rückblick in die Geschichte
der fotorealistischen Lichtbildnerei zeigt zweifaches: Erstens erlangten
fotorealistische Bilder im Vergleich zu nicht-fotorealistische Bildern
ein deutlich größeres Interesse in der Weltgesellschaft und zweitens
erhalten handgemalte Bilder bisher noch die höchsten Preise. Die erste
These ist zweifelsohne nicht ganz leicht zu belegen. Fotorealistische
Bilder wurden zunächst in der analogen Fotografie und dann in der digitalen
Fotografie massenhaft verwendet. Die Umsatzzahlen zeigen, dass der Fotorealismus
im Fernsehen, den Zeitschriften und eben der Fotografie in sehr vielen
bildvermittelten Kommunikationssituationen überwiegt. Im Jahr 2005 wurden
beispielsweise weltweit 130 Millionen Fotokameras verkauft, davon waren
100 Millionen digitale Kameras (vgl. http://www.idg.com/ / International
Data Group). Für den globalen Markt der Filmindustrie wird bis zum Jahr
2010 ein Umsatzplus von jährlich 5,3 Prozent auf 104 Milliarden US-Dollar
erwartet (vgl.: http://www.pwc.de/ „Global Entertainment and Media Outlook:
2006-2010”). Das Marktvolumen für Software übertrifft zwar beispielsweise
das der Filmindustrie um das Doppelte, doch Systeme für ”Computer Aided
Design“ (CAD) bestimmen bisher eher einen kleinen Teil des Gesamtmarktes
(vgl EITO 2007).
Zweitens ist festzustellen,
dass bisher die Bilder die höchsten Preise erzielen, die von Hand in
nicht-fotorealistischen Darstellungsstilen erstellt wurden. Pablo Picassos
Gemälde ”Junge mit Pfeife” wurde beispielsweise zu einem Preis von 104
Millionen Dollar bei Sotheby´s versteigert. Solche Preise werden Bilder
des nicht-fotorealistischen Renderings wohl nie erreichen, weil ihnen
die menschliche Handschrift eines Künstlers fehlt, der allen anderen
Menschen ähnlich war. Den Preis für ein nicht-fotorealistisches Bild
aus einer Maschine setzt der Markt auch deshalb als sehr niedrig an,
weil ein Künstler nur die malerischen Freiheiten wählen kann, die ein
Softwareprogramm für Computergrafik erlaubt. Zweifelsohne können sich
die Märkte der Weltgesellschaft täuschen, doch bisher werden traditionelle
nicht-fotorealistische Bilder vom Markt als so wertvoll erachtet, weil
ein Computersystem noch nicht die gestalterischen Freiheiten ermöglicht,
die die klassische Malerei bisher erreicht hat. Selbst wenn ein Computersystem
in die Lage versetzt werden kann, in dem individuellen Darstellungsstil
von Pablo Picasso ein Gemälde zu produzieren, dann ist immer noch kein
Kunstwerk entstanden, weil zur Freiheit des Künstlers nicht nur die
Wahl der Malmittel und Werkzeuge (Zeichenmittel) gehört, sondern ebenfalls
die individuelle Wahl des Motivs sowie der Zeichenbedeutung. Die nicht-fotorealistische
Bildmaschine müsste nicht bloß den soziologischen Turing-Test bestehen,
sondern sie müsste zudem einen Kunsthistoriker oder Galleristen überzeugen.
Eine sehr begrenzt automatische Bildmaschine, wie beispielsweise das
Aaron-System von Harold Cohen (vgl. http://www.kurzweilcyberart.com/), ist nicht an der Sozialität
des Kunstsystem orientiert, sondern an der Produktion von Bildern, wie
sie in der Kunst schon einmal (z.B. bei Paul Klee) sehr ähnlich vorgekommen
sind. Eventuell aus diesem Grund betont auch Schirra, dass Cohen mit
dem Aaron-System keine Kunst simulieren wollte, sondern es als ein Werkzeug
vorsieht, mit dem in engen Codierungen künstlerisch wirkende Bilder
erstellt werden können (vgl. Schirra 2005, S. 141).
Abb. 5 Bild des AARON-Systems
2007, http://www.kurzweilcyberart.com/
7. Wann verstehen Bildmaschinen
eine Bildbedeutung?
Die Bedeutung eines Bildes
liegt nach pragmatischer Maxime darin, zu welchen kommunikativen Handlungen
und Interpretation es ein Individuum motiviert. Ein Individuum schmunzelt
beispielsweise während der Bildbetrachtung, wodurch das Bild eine Bedeutung
als scherzhafte Zeichnung erlangt. Diese Bedeutungsaktualisierung greift
Peirce mit seiner pragmatischen Maxime auf. Für ihn heißt Pragmatik
in verkürzter Form: Die Bedeutung von etwas ist der Begriff seiner Wirkung
(vgl.: Peirce 5.402 u. Schelske 2001, S. 150). Wenn eine Bildmaschine
für nicht-fotorealistische Bilder solche Bildstrukturen erstellen kann,
die Menschen zum Lachen bringen, dann hat jene Maschine zumindest Algorithmen
dafür, welche bedeutungsvollen Strukturen es sind, die Menschen als
eine für sie relevante Bedeutung verstehen. Solange Bildmaschinen irgendwelche
zeichenhaften Strukturen nachahmen, aber nicht das Lachen selbst als
Bedeutung verarbeiten können, sind sie außerstande bedeutungsvolle Elemente
einer Zeichnung funktional einzusetzen, um Menschen spezifische Informationen
zu kommunizieren. Mit der nicht-fotorealistischen Bildmaschine von der
Bauart einer halbautomatischen Malpalette, wie sie Isenberg vorstellt,
kann ein Maler einige Zeichenstrukturen einer nicht-fotorealistischen
Bezeichnung von etwas erstellen. Für automatische Bezeichnung wäre die
Maschine erst geeignet, wenn sie wie ein Fotoapparat auf etwas gerichtet
werden könnte und beispielsweise eine Karikatur innerhalb der vorgesehen
Algorithmen kreiert. Die Bedeutungen von Zeichenstrukturen würde die
Maschine erst dann verstehen, wenn sie Handlungsanweisungen für die
Interpretation eines Bildes auf menschlich nachvollziehbare Weise ausführt.
8. Die perfekte Bildmaschine
für nicht-fotorealistische Bilder
Die perfekte, autonome Bildmaschine
besteht zwar den Turing-Test für Bilder und trotzdem realisiert sie
eventuell ihr soziales Problem. Die Bilder der perfekten, autonomen
Bildmaschine würde nicht die gleiche Anerkennung erlangen, wie sie die
Bilder eines menschlichen Künstlers erfahren würden. Denn menschliche
Individuen orientieren sich an menschlichen Individuen und sie werden
es nicht zulassen, dass eine vollständig autonome Bildmaschine ihre
künstlerischen Bilder malt, weil sie fühlen, dass die Maschine ihnen
nicht ähnlich ist und auch nicht ähnlich sein soll. Vom Standpunkt vergesellschafteter
Individuen aus gesehen, ist die perfekte, autonome Bildmaschine für
nicht-fotorealistische Bilder dazu verdammt, für immer und ewig ein
schnödes Werkzeug zu bleiben.
Dankeswort:
Ich danke Jörg Schirra für
seine hilfreichen Anmerkungen. Des Weiteren dank ich jedem, der Anmerkung
machen mag, um den Text zu verbessern.
(Andreas Schelske contact[at]soziologischeberatung.de)
Literatur:
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Schelske, Andreas (2001). Visuell kommunikatives Handeln mittels
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2001, Scriptum Verlag Magdeburg. Online: http://www.soziologischeberatung.de/
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Schelske, Andreas (1998). Die kulturelle Bedeutung von Bildern -
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Deutscher Universitäts-Verlag: Wiesbaden. Online: http://www.soziologischeberatung.de/
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Schelske, Andreas (1998). Wie wirkt die Syntaktik von bildhaften
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