Das digitale Bildvergessen, Fernanwesende Bildkommunikation in Echtzeit.

Tagungsband, ZWEITES SYMPOSIUM der Deutsche Gesellschaft für Photographie und des Fachbereichs Gestaltung der Georg-Simon-Ohm
Fachhochschule Nürnberg

Schelske, Andreas
2005
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Keine Gesellschaft zuvor produzierte mehr Bilder als die heutige Weltgesellschaft. Keine Gesellschaft wollte sich so oft und massenhaft selbst im Bild inszenieren wie die heutige. Keine Gesellschaft verknüpfte ihr Überleben stärker mit Bildern. Keine Gesellschaft war versessener darauf, soziale Kontakte mittels Bildern aufzubauen, zu unterhalten und zu erinnern. Die digitale Bildherstellung übertrifft bei weitem den Bilderboom, für den die technische Reproduzierbarkeit des fotografische Bildes zu Beginn des 20 Jh. sorgte. Nach Schätzungen der Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) wurden 77 Millionen Digitalkameras weltweit im Jahr 2004 verkauft. Gegenüber dem Jahr 2003 steigerte sich der Markt für Digitalkameras um 54 Prozent. 100 Millionen Fotohandys lieferte die Industrie 2004 weltweit aus. Jedes Kommunikationsgerät der Zukunft wird die digitale Bilderstellung integriert haben. Die kommunikationsstarken Individuen der Weltgesellschaft haben dann immer und überall eine Digitalkamera dabei, um immer und überall Bilder an Massen von Individuen versenden zu können. Wozu braucht die Gesellschaft noch Fotografen, wenn alle immer überall Digitalfotos machen können? Erinnert sich eine Gesellschaft an alles, wenn alles von allen fotografiert wurde? Wie können digitale Bilder überhaupt der Erinnerung dienen? Diese drei Fragen werden die folgenden vier Kapitel beantworten.

Alle nachstehenden Überlegungen gehen davon aus, dass die Evolution des digitalen Bildes einer Evolution des Sozialen folgt. Mittels digitaler Bilder beginnen wir uns in Fernanwesenheit zu vergesellschaften. Das digitale Bild präformiert zunehmend die sozialen Wechselwirkungen der Netzwerkgesellschaft. Freundschaft, Ehe, Liebe, Vertrauen, Macht, Partnerfindung, Kinderbetreuung, Geschäftsbeziehungen, Altenpflege, Öffentliche Sicherheit, Identität, Shopping, Unterhaltung, Gaming und selbstverständlich informationelle Weltorientierung etc. gewährleisten mehr und mehr digitale Bilder. Kommunikation, Communities und soziale Orientierung sind in der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Netzwerkgesellschaft ohne das digitale Bild kaum möglich. So fungiert das digitale Bild als sozial anknüpfbare Benutzungsoberfläche der modernen Vergesellschaftungstechnologien, d.h. als Interface,.


These 1: mehr digitale Bilder, weniger Bedeutung, mehr Individuum, weniger Kollektiv

Die digitalen Bilddaten konsumieren Individuen im Spaß, die analogen Bilddaten konsumieren Kollektive in Erinnerungsarbeit. Trotz der digitalen Bilderstellung verfügen analog bewahrte Bilddaten bisher über die höhere Erinnerungswahrscheinlichkeit. Der Photoindustrieverband rechnet für das Jahr 2004 mit 5,5 Milliarden Colorpapierbildern im deutschen Homeprint-Bereich. Öffentliche Verwaltung nutzen analoge Microverfilmung als Archivierungsmedium. Doch lassen Prints, Gemälde und andere Materialisierungen von Bilddaten für jeden immer alles erinnern? Wer erinnert heutzutage die künstlerische Bedeutung des "Schwarzen Quadrats", mit dem Kasimir Malewitch 1915 seinen Suprematismus initialisierte? Aus dem Bild des „Schwarzen Quadrats“ – ganz gleich wie stabil seine materielle Realisierung ist – macht die Zeit eine „Black Box“. Die Bedeutung des Schwarzen Quadrats lässt sich aus dem Bild nicht herauslesen. Das Schwarze Quadrat bewahrt wie alle anderen Bilder keine Bedeutungen. Bilder sind für die Erinnerung von Bedeutungen sehr ungeeignete Zeichen. Ihre Interpretation basiert auf keiner Konvention. Wechselt der Kontext, der Raum, die Gesellschaft, das Individuum, das Licht oder irgendeine andere Randbedingung, ändert sich oft auch die Interpretation des Bildes. Fotografien, digitale und analog herstellte Bilder sind immer interpretationsoffene Zeichen – alles lässt sich in sie hineininterpretieren. Kein Bild archiviert Bedeutungen (vgl. Schelske 1998).

Mit der Reproduktionstechnik des fotografischen Bildes lösten sich die Bilder aus ihren Traditionen und den religiösen und künstlerischen Bedeutungskontexten. „Die Reproduktionstechnik löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab“ (so formulierte Walter Benjamin 1936). Benjamin beschreibt, wie die gesellschaftlichen Umgangsweisen mit Bildern sich infolge der fotografischen Reproduktionstechnik verändert haben. Das fotografische Bild wurde zum Massenartikel der Kultur- und Freizeitindustrie. Mit dieser Herauslösung der Bilder aus den Institutionen der Kirchen, Museen, Sammlungen und Ausstellungen verlor das Bild seine bis dahin angestammten sozialen Institutionen, die es mit nachhaltigen Bedeutungen quasi aufladen konnten. Ohne Bindung zu bedeutungsstützenden Kollektiven gehen den fotografischen Bildmassen die Bedeutungen verloren. Auch die unterstützende Vertextung mittels Schrift rettet die Bildbedeutung kaum und selten langfristig.

Der Verlust an Kollektiverinnerung der Individuen setzt mit der fotografischen Reproduktionstechnik ein und wird heutzutage von der digitalen Bildproduktion weitergeführt. Die anhaltend massive Überschwemmung mit digitalen Bilddaten lässt die Informationsgesellschaft an der Erinnerungsarbeit erschöpfen. Bei mehr Bildern mit weniger Bedeutung muss die Öffentlichkeit auf adäquate Erinnerungsarbeit verzichten. Ihr muss beispielsweise die Google-Bildsuchmaschine reichen, um sich bildorientiert inspirieren, aber nicht mit Bedeutungen versorgen zu lassen. Für Bedeutungsexegese bleibt bei mehr Bildern und weniger Kollektiv keine Zeit. Die stark individualisierten Menschenmassen sehen sich überfordert, den Deutungsanspruch der Bilder noch gerecht zu werden.

Das verbleibende Kollektiv interessiert sich für die Erinnerung an sich selbst, um sich konstituieren zu können. Es dokumentiert sich in Museen, Gedächtnisstätten, Friedhöfen und anspruchsvollen Enzyklopädien im und außerhalb des Internet. Massiver Bildkonsum wirkt da störend.

Der Konsum gehört den Individuen. Sie konsumieren die digitalen Bilder nahezu unbesehen und entlassen sie auf den Bildermüllhalden digitaler Speichermedien oder löschen sie lieber gleich – aus ihrer Erinnerung und den Speichermedien. Wo das Kollektiv noch Bedeutung von irgendetwas erinnern möchte, dort entledigt sich das Individuum jenes kollektiven Anspruchs im Bildkonsum und bleibt damit vom sich nicht findenden Kollektiv vergessen. Doch ohne Kollektiv kann – wie gesagt – sich die Bedeutung der digitalen Bilder nicht stabilisieren. Bei Bedeutungslosigkeit ist die Konsequenz ist folgende: Die Akteure drängen auf immer stärker beindruckende Bilder, um genau das Kollektiv zu initialisieren, dem die Bedeutung des Bildes nachhaltig erinnerbar nachhängen soll. Die Fernsehbilder von der Zerstörung des World Trade Centers erzeugen beispielsweise genau die Erinnerungskollektive in den Achsen der Weltgesellschaft, die es ohne die drastischen Bilder global nicht gegeben hätte. Erst durch die extremen Bilder hat sich überhaupt erst ein globales Erinnerungskollektiv gebildet.

Bei deutlich schwächeren Bildern als den Katastrophenbildern kollektivieren sich Individuen gegenwärtig in fotografischen Tagebüchern – sogenannten PhotoWeblogs – wie z.B. www.photoblogs.org/ oder www.photofriday.com. Das PhotoWeblog bemüht sich um die flüchtige Aufmerksamkeit eines Kollektivs, dessen Gemeinschaftssinn sich in terrestrischer Stadtteilkultur heutzutage selten noch entwickeln kann. Und doch geht es aller Kollektivität zunächst um die Erinnerung der Eigenbedeutung und dann erst der Bildbedeutung.


These 2: Digitale Bilder kommunizieren, analoge Bilder erinnern

Den digitalen Bilddaten gehört die Zukunft; den analogen Bilddaten gehört die Vergangenheit – auch zukünftig. Das fotografische Bild wurde nach Benjamin nicht angebetet oder verehrt; es sollte nicht der Erinnerung, sondern der Kommunikation gesellschaftlicher Realität dienen. Die bildhafte Nachricht über das, was fotografische „Objektivität“ in unserer Welt ist, darin sah Benjamin die gesellschaftliche Praxis der Fotografie. Nicht die Erinnerung oder das Gedächtnis stand im Vordergrund des fotografisch generierten Bildwissens. Die Objektivität fotografischer Bilder sollte die soziale Realität und soziale Konnektivität (Beziehung untereinander) sowohl erzeugen als auch mitteilen.

Historische Erinnerung war und konnte kein Anliegen der Fotografie sein – dafür war sie zu jung und zu abhängig von ihrem Objekt. Deshalb durfte Fotografie auch lange Zeit keine Kunst sein und durfte nicht in das Museum gehören. Beispielsweise sagt - so Benjamin (vgl. 1963, 63) - die Industriefotografie der Kruppwerke oder der A.E.G beinahe nichts über die faschistische Vergangenheit dieser Betriebe aus. Die optische Objektivität des fotografischen Bildes motiviert bis heute dazu, sich mit und in dem fotografischen Realismus zu vergesellschaften. Die Fotoarchive sind zwar voll mit Fotografien des letzten Jahrhunderts, aber kaum eine Institution kann und will sich die Mühe machen, die Fotos zu sichten, zu erinnern und wieder in die visuelle Kommunikation einzugeben. Mit einer gewissen Plötzlichkeit macht die Fotografie einen Weltausschnitt für eine kurze Zeit sichtbar und verschwindet im Archiv. Dort im Archiv wartete das Foto auf seine Erinnerung, worin seine Funktion bis heute liegt – die Lichtbildnerei ist ein Archivierungsmedium. Die Mikrofiche-Fotografie von Bildern und Büchern heben das hohe Erinnerungspotential hervor, dass Bibliotheken und andere Archivierungsanstalten in dem fotografischen Aufzeichnungsverfahren erkennen. Die analogen Bildarchierungsverfahren leisten bis auf weiteres die visuell kommunikative Erinnerung unserer Geschichte in Bildern.

Die Digitalisierung der Fotografie dient nicht der Erinnerung, sondern sie dient der Kommunikativität. Die Digitalisierung erbringt vor allem einen enormen Gewinn an Nutzungskomfort mit den Möglichkeiten unterschiedlicher Darstellung, Übertragung und Wiederverwendung des Bildes. Im Mobile Imaging der Handyfotografie tritt zum ersten Mal das Massenphänomen auf, dass Menschen auf ein Bild mit einem Bild antworten. Niemals zuvor standen derart viele Individuen in einem visuell kommunikativen Dialog. Das digitale Foto von Webcams, Handycams, Camcordern und sonstigen Digicams erzeugt die Fernanwesenheit, die die mobile Gesellschaft für ihre kommunikative Vergesellschaftung benötigt. Fernanwesenheit bei Echtzeitkommunikation lindert die soziale Fragmentierung der mobilen Gesellschaft mit den Mitteln der Digitalfotografie. Das digitale Foto kommt in die Position, überall dort für Kommunikation zu sorgen, wo der Mensch vor Ort fehlt. An diesen Menschen erinnerte das analoge Bild – das digitale Bild lässt ihn immer und überall in Echtzeit fernanwesend werden. Das digitale Bilder kommuniziert also dort dialogisch, wo das analoge Bild nur erinnern sollte.

Die Bildkommunikation steht hier am Scheidepunkt zwischen den Bildern, die etwas aktuell kommunizieren, und den Bildern die etwas erinnern helfen. Die Bilder der Kommunikation sind digital, indessen die Bilder des Archivs analog bewahrt werden. Die Differenz zwischen digitalen und analogen Bilddaten polarisiert die gesellschaftliche Praxis. Digitale Bilddaten erzeugen Echtzeit sozialer Beziehung über räumliche Distanzen hinweg. Der Video-Chat per Webcam verdeutlicht diesen Echtzeit-Bild-Dialog. Zeitverzögerung gehört zur Funktion analoger Bilddaten. Analoge Bilddaten sollen Zeitspannen überbrücken. Sie bleiben deshalb stationär, vor Ort in den Diarahmen ihrer kulturellen Institutionen. Analoge Bilddaten scheuen das Licht, die Bewegung, den Gebrauch. Ihr Erinnerungspotential bedarf der wohl temperierten Ruhe, wie Fotoarchivare oft betonen. Monologisch liegen sie dem Archivar vor Augen – mehr nicht. Die Zeugenschaft analoger Bilddaten liegt in ihrer Glaubwürdigkeit, ihrem fotografischen Realitätsnachweis und in ihren visuellen Interpretationsoptionen selbst.

Digitale Bilddaten erhalten ihren Wert, wenn sie global werden – wenn sie mobil durch die Netze jagen, sich nicht isolieren, sondern sich dialogisch im Hypertext des Internet vernetzen. Für die Verbreitungsgeschwindigkeit waren die digitalen Bilder der Opfer, Terroristen und Soldaten im Irakkriegs das eindringlichste Beispiel. Ohne das digitale Bild würde heutzutage jede visuellkommunikative Propaganda um einiges verträumter wirken. Das digitale Bild dient der schnellen, flüchtigen Kommunikation. Nicht Konstanz, sondern Vergessen ist das Prinzip digitaler Bilddaten. Gäbe es das digitale Vergessen nicht, würde insbesondere unser kulturelles Gedächtnis verstopfen, vermüllen und überlaufen. Der I-Pod mit seiner Speichermöglichkeit von 25000 Digifotos zeigt nur zu deutlich, dass keine Gesellschaft im Stande wäre, die Bilderinnerung beispielsweise der heute jugendlichen Generation aufzuarbeiten. Insofern ist die Gefahr gebannt, die Umberto Eco heraufnahen sah, wenn er schrieb: „Heute besteht die Gefahr, dass sechs Milliarden Menschen sechs Milliarden verschiedener Enzyklopädien haben, sich überhaupt nicht mehr verstehen.“ (Eco 2004)

Fotos, die nirgends ihren analog materialisierten Ausdruck finden, verschwinden aus der gesellschaftlichen Gegenwart genauso, wie das gesprochene, aber nicht dokumentierte Wort früherer Generationen. In dieser Erinnerungslosigkeit ist das Digitalfoto der gesprochenen Sprache unvergleichbar ähnlich – es verflüchtigt sich in der Aktualität der Kommunikation zwischen Menschen – weiter nichts. Aber in der Aktualität erzeugt es eine Sozialität der fernanwesenden Nähe, deren Echtzeit für die archivarische Lichtbildnerei unerreichbar gewesen wäre. Insofern befördern digitale Bilddaten die Vergesellschaftung, die sich in analogen Bilddaten archiviert.


These 3. Digitale Vergessenstechnik

Für das Computersystem existieren keine Bilder. Es verarbeitet binäre Daten. Ob die Daten beispielsweise Bilder, Schrift oder Ton beinhalten, weiß oder reflektiert das Computersystem nicht. Hinter den Kürzeln jpeg, bmp, tiff, tga, pcy usw. verbergen sich Dateiformate, die zur komprimierenden, digitalen Speicherung von Bildern verwendet werden können. Wie lange die Dateiformate auf zukünftigen Computersystemen verarbeitet werden können, darüber streiten die Informatiker. Manche erwarten eine Lesbarkeit für die nächsten 20 Jahre, andere wiederum sprechen von einer 30 bis 50 Jahre anhaltenden Lesbarkeit. Die Ursachen für diesen Datenverlust sind die begrenzte Haltbarkeit der Trägermedien und der schnelle Medien- und Systemwandel. Computerhardware verändert sich rasch und wird zweifelsohne nicht nachgebaut.

In der Langzeitarchivierung von digitalen Bilddaten ist das Erinnerungsdesaster bisher eingeplant. Die wechselnden Dateiformate sowie sich verändernde Hard- und Software der Computersyste führt bis auf weiteres dazu, dass eine Speicherung von über 50 Jahren kaum anzunehmen ist. Selbst wenn Patente, wie z.B. JPEG 2000, eine längere Speicherung versprechen würden, selbst dann wäre der einzige Unterschied zu den bisherigen Verfahren, dass Erinnerung infolge des Patents kostenpflichtig werden könnte, weiter nichts. Gegenüber dem Mikrofilm oder säurefreiem Papier mit einer Haltbarkeit von bis zu 500 Jahren ist die Digitalisierung von Bilddaten eine Technik des Vergessens. Jedes Bild, das nur als binäres Dateiformat existiert, gehört in absehbarer Zeit der unwiderruflichen Vergessenheit, der Lesmosyne.


4. These: Fotografen werden humane Biofilter der bildhaften Erinnerungsproduktion

Wer erinnern will, muss etwas für seine Erinnerung tun. Wenn sowieso jeder immer und überall Digitalfotos für die Erinnerung erstellt, wozu benötigt die Gesellschaft ausgebildete Fotografen? Die sechs Milliarden Laien erstellen weiß Gott genügend an visueller Kommunikation in fotografischer Hinsicht. Im Photoshop, im computerunterstützten Rendering fiktiver Szenen, kann jeder ambitionierte Laie theoretisch fast alle Möglichkeiten der Fotografie nachbilden oder vorwegnehmen. Wozu also noch Wissensarbeiter des visuellen Erinnerungsvermögens, wenn jeder Laie die technischen Möglichkeiten der Bildbearbeitung einzusetzen vermag? Jede Suchmaschine bringt im Internet und den Bildarchiven von Bill Gates mehr Bilder auf den Screen, als es die Lebensleistung eines Fotografens anzubieten vermag. Zudem sind vor den Suchmaschinen des Internet alle Fotografien gleich. Die meisten Bildsuchmaschinen wie etwa www.Google.de, www.ditto.com oder www.altavista.de suchen zwar nicht Bilder, sondern schriftfixierte Bildbeschreibungen, aber sie bieten Fotografien in Hülle und Fülle.

Worin der Fotograf also seine Profession und berufliche Orientierung finden kann, lässt sich mit technischem und quantitativen Know How selten noch legitimieren. Bei www.planetside.co.uk und dem Programm Terragen ist es jedem ermöglicht, schönste Landschaften auf die interaktive Agenda der Sehnsuchtsbilder und Traumwelten zu setzen. Auch für die Bedeutung der Bilder taten Fotografen bisher wenig. Sie entließen das Foto dem Publikum in dem bis heute trügerischen Ausspruch, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Doch ein Bild schweigt; alle Worte sagen die Interpreten und Rezipienten. Dem Fotografen obliegt es, Bilder zu erstellen, die sich den Worten insofern entziehen, als dass sie durch diese nicht zu ersetzten sind. Nur dann, wenn ein Bild etwas anderes als die beschreibenden Worte verrichtet, erfüllt sich dem Rezipienten die Bilderfahrung, die als Leistung dem Fotografen zuzurechnen ist. Dem Fotograf obliegt es deshalb, ein professioneller Wissensarbeiter des visuell kommunikativen Wissens, also des ikonischen Wissen zu sein. Denn er ist es, der per Erfahrung und Entscheidung darüber wacht, was sich in Zukunft an visuell kommunikativem Wissen zu erinnern lohnt.

Der Fotograf fungiert als humaner Biofilter in der Datenflut digitaler Bilder. In dieser Funktion kann er nicht über die Massenhaftigkeit digitaler Bildkommunikation wachen, sondern darüber, was sich in Zukunft lohnt zu erinnern. Ihm obliegt die Aufgabe eines Gedächtnisarbeiters, der für die Gesellschaft qualitativ hochwertige Archive erstellt, die sie zu anderen Zeitpunkten für die Erinnerung an sich selbst zu benötigen beabsichtigt. Vor diesem Hintergrund des professionellen Wissensarbeiters im Bergwerk der visuellen Kommunikation bedarf es eines Know-Hows, welches mehr umfasst als die fotografische Technik. Die Arbeit am bildhaften Wissen – d.h. am ikonischen Wissen – erfordert, den aktuellen und historischen Bezug zum jeweiligen gesellschaftlichen Kontext in den Bildern selbst zu sehen.

Die aktuelle Gründung der Bildwissenschaften (www.bildwissenschaft.org) kann nur der Anfang sein, dem Fotografen und anderen Bildnern den Kontext zu vermitteln, in dem sie selbst arbeiten. Aus soziologischer Perspektive geht es in der Fotografie nämlich nicht darum, wie etwas dargestellt ist, sondern darum, wie sich Gruppen von Individuen mittel visueller Kommunikation sozial ausdifferenzieren. Mit der visuellen Kommunikation des Fotos stellen Kollektive selten etwas anderes dar als wie sie selbst als Kollektiv des qualitativ hochwertigen Geschmacks verstanden werden wollen. Die bisherigen Berufsbezeichnungen für die visuell kommunikativen Wissensarbeiter waren bisher Künstler und Archivar (Kunsthistoriker). Die Entwicklung neuer Berufs- und Tätigkeitsfelder ist die zukünftige Herausforderung. Da insbesondere die künstlerische Position von Idealismen umrankt ist, die sich ökonomisch in Bedrängnis geratene Gesellschaften momentan immer weniger leisten mögen. Sicher ist, dass ausschließlich die bildnerische Qualität und nicht die Quantität die Erinnerung an die Archive der Gesellschaft nachhaltig bewirkt. Das analog wie digitale fotografische Bild bleibt insofern das Material der zwischenmenschlichen Kommunikation in Kollektiven, wenn die kulturelle Bedeutung von Bildern an Nachhaltigkeit gewinnen soll.

Fazit

Die aufgezeigten Überlegungen gehen davon aus, dass die Evolution des digitalen Bildes einer Evolution des Sozialen folgt. Zunehmend setzen wir Bilder ein, um in uns in Fernanwesenheit zu vergesellschaften. Die sozialen Wechselwirkungen der Netzwerkgesellschaft prägt sowohl die Erinnerung als auch die Gegenwart des visuell kommunikativen Wissens. Vor diesem gesellschaftlichen Kontext verdeutlichte ich die vier folgenden Thesen zum digitalen Vergessen und anlogen Erinnern:

1. Mehr digitale Bilder bringen ein Weniger an vergesellschafteten Bedeutungen in Kollektiven mit sich.

2. Digitale Bilder kommunizieren, analoge Bilder erinnern.

3. Computergestützte Digitalität ist bisher eine Technik des Vergessens.

4. Fotografen als Arbeiter am ikonischen Wissen sind herausgefordert als Künstler oder Archivare der Zukunft zu fungieren.

 

Literatur:

Benjamin, Walter (1963) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. (Erstveröffentlichung 1936)

Eco, Umberto (2004) Interview: Bitte sagen sie uns die Wahrheit In: -Die Welt Ausg. 1.10. 2004, www.welt.de

Schelske, Andreas (1998) Zeichen eines kulturellen Bildgedächtnisses. In: Bild, Bildwahrnehmung, Bildverarbeitung, Interdisziplinäre Beiträge zur Bildwissenschaft; Hrsg.: Rehkämper, K./ Sachs-Hombach, K.: Wiesbaden, S. 59-68, siehe: http://www.4communication.de/Bild-Semiotik.htm

 

Weiterführende Links:

Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung: http://www.langzeitarchivierung.de/

http://www.langzeitarchivierung.de/modules.php?op=modload&name=PagEd&file=index&page_id=2
nestor - materialien 2


Dort:
Digitalisierung und Erhalt von Digitalisaten in deutschen Museen / Dirk Witthaut. Unter Mitarbeit von Andrea Zierer, Arno Dettmers, Stefan Rohde-Enslin. - Frankfurt am Main : nestor c/o Die Deutsche Bibliothek, 2005. IV, 116 S. : graph. Darst.
PDF: http://www.langzeitarchivierung.de/downloads/mat/nestor_mat_02.pdf

Perspektiven der Langzeitarchivierung multimedialer Objekte / Prof. Dr. Wolfgang Coy, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Informatik - Frankfurt am Main : nestor c/o Die Deutsche Bibliothek, 2006. - 81 S. : graph. Darst.
PDF: http://edoc.hu-berlin.de/series/nestor-materialien/5/PDF/5.pdf

Joachim Polzer, 18.11.2006, www.Telepolis.de
Schwarzes Loch im digitalen Gedächtnis
Das Problem des Langzeiterhalts von bewegten Bildern und Tönen ist ungelöst
HTML: http://www.heise.de/tp/r4/html/result.xhtml?url=/tp/r4/artikel/23/23910/1.html&words=Digitalen%20Ged%E4chtnis

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